12. Juli 2022

Sie entdeckte eine neue Welt – Maria Sibylla Merian

Maria Sibylla Merian war Naturforscherin und Künstlerin. Wegen ihrer detailgetreuen Betrachtungen und Zeichnungen von Metamorphosen gilt sie bis heute als Wegbereiterin der Insektenkunde. Alexander Schwarz erzählt in »Die Entdeckerin der Welt« ihre Geschichte und spricht im Interview von der außergewöhnlichen Frau Maria Sibylla, seinen Recherchen und den Schauplätzen seines Romans.

Wie bist du auf Maria Sibylla Merian als Figur für deinen Roman gekommen, was fasziniert dich an ihr?

Ich dachte mir, dass ich gern über jemanden schreiben möchte, der wie ich von Deutschland nach Holland gezogen ist. So kam Maria Sibylla recht schnell ins Bild. Als ich dann angefangen habe, über sie zu lesen, war ich sofort fasziniert. Was für ein Powerhouse war diese Frau!

Sie war so ungefähr alles, was im 17. Jahrhundert als Frau noch nicht ging: Künstlerin, Naturwissenschaftlerin, Unternehmerin und geschiedene, alleinerziehende Mutter. Maria Sibylla war ihrer Zeit in so vielen Aspekten um Längen voraus. Darüber wollte ich unbedingt mehr wissen.

Wie hast du es geschafft, dich der Figur über die große zeitliche Distanz hinweg anzunähern?

Natürlich sind da zunächst die Recherchen. Dann formt sich langsam ein Bild heraus, wie sie als Person hätte sein können (es ist sehr wenig über Maria Sibylla als Person bekannt).

Und dann geht’s ans Loslassen, Augen-schließen und In-ihre-Welt-Eintauchen und darum, sie vor meinem geistigen Auge lebendig werden zu lassen. Ich befinde mich beim Schreiben dann in einer Art Zwischenstadium, dann fühlt es sich fast an, als ob Maria Sibylla Regie führt. Vielleicht bin ich ihr in diesen Momenten am nächsten. Beim Zurücklesen fand ich diese Szenen immer sehr stimmig.

Worin besteht die große Leistung von Maria Sibylla Merian als Naturwissenschaftlerin? Was an ihr war revolutionär, auch mit Blick auf die Rolle der Frau zu ihrer Zeit?

Revolutionär war Maria Sibylla auf zwei Ebenen: In ihrer Arbeit, weil sie Kunst und Wissenschaft zusammengebracht hat. Dank ihrer bis heute als unerreicht angesehenen Kunst konnte sie uns ihre naturwissenschaftliche Erkenntnis vermitteln: In der Natur hängt alles mit allem zusammen. Sie zeichnet sehr bewusst die Raupe mit ihrer Wirtspflanze und zeigt so, dass Flora und Fauna ineinander verflochten sind. Damit hat sie unsere Sicht auf die Natur grundlegend verändert.

Man muss sich vor Augen führen: Maria Sibylla hat sich exakt hundert Jahre, bevor Alexander von Humboldt nach Lateinamerika reiste, nach Suriname (Suriname grenzt an den Norden Brasiliens) eingeschifft. Ihr persönlicher Lebensplan war kolossal unkonventionell für ihre Zeit des späten 17. Jahrhunderts, um es milde auszudrücken. Sie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen und war fortan alleinerziehende Mutter, sie hat gemeinsam mit ihren Töchtern eine eigene Firma betrieben, und sie wollte unbedingt als allein reisende Frau nach Suriname. Für damalige Verhältnisse einfach unerhört, das alles.

Maria Sibylla ist noch immer eine Identifikationsfigur, vor allem, aber nicht nur, für Frauen. Was sie uns sagt, ist: Glaube an dich und gehe deinen Weg, egal ob es den Konventionen entspricht, egal wie viele Steine man dir in den Weg legt. Tu’s einfach.

Was ist das Besondere an den Schauplätzen, an denen du deine Geschichte spielen lässt?

Das Zentrum Amsterdams ist einfach wunderschön, ein Freiluftmuseum aus dem 17. Jahrhundert. Kurz bevor Maria Sibylla nach Amsterdam kam, wurde der berühmte halbrunde Grachtengürtel gerade abgeschlossen. Maria Sibylla hat also praktisch in einer Neubauwohnung gewohnt. Ein Spaziergang wird so leicht zur Zeitreise. Einige der Gebäude und Orte, die ich im Roman beschreibe, stehen noch immer. Manche heißen heute anders. Andere, wie das Rijksmuseum, standen damals noch nicht oder nicht mehr.

Der Kontrast der Schauplätze könnte größer fast nicht sein. Paramaribo war eine sehr kleine Stadt mit tropischem Klima. Damals wie heute ist sie die einzig wirkliche Stadt Surinames, das noch immer zu achtzig Prozent aus Urwald besteht. Erschreckend war, was ich während meiner Recherchen über die Plantagen gelernt habe, über diese auf Gewinnmaximierung, Unterdrückung und Gewalt basierenden Arbeitslager. Wie verhält sich Maria Sibylla zur booming city Amsterdam und wie zu den Wirklichkeiten in Suriname? Ich fand es sehr spannend, diese Spannungsfelder auszuloten.

 

Wie bist du bei deiner Recherche vorgegangen? Gab es etwas, das dich überrascht oder besonders beeindruckt hat?

Ich war einfach unheimlich neugierig auf diese Person und habe monatelang recherchiert (und mache das noch immer, es bleibt einfach spannend): Bücher lesen, in Museen schauen und mit Fachleuten (Wissenschaftler:innen und Künstler:innen) reden.

Alte Gemälde, Zeichnungen, Stiche, Stadtpläne und Landkarten sind Gold wert. Hierauf sieht man zum Beispiel Gebäude, die heute nicht mehr stehen, was die Leute zu dieser Zeit getragen haben und was so alles auf der Straße los war.

Sehr geholfen hat mir dabei, dass ich auch niederländischsprachige Literatur und Originalquellen lesen und Gespräche mit Fachleuten in diesen Sprachen führen konnte.

Mich hat überrascht, dass ich als Schriftsteller scheinbar andere Fragen stelle als Wissenschaftler:innen. Ein Beispiel: Maria Sibylla hat in ihrem Buch über die surinamischen Raupen und ihre Verwandlung keine einzige Beobachtung aus den ersten vier Monaten ihres Aufenthalts aufgenommen. Was hat sie in dieser Zeit gemacht? Bisher hat scheinbar noch niemand danach gefragt, obwohl dies doch zumindest bemerkenswert ist.

Beeindruckend finde ich, in wie vielen Ländern bis zum heutigen Tag nach Maria Sibylla Merian geforscht wird. Sie weiß uns immer noch zu berühren, sei es als Künstlerin, Wissenschaftlerin oder als Frau. Und vielleicht hilft mein Roman ja ein kleines bisschen dabei, sie wieder etwas mehr ins verdiente Rampenlicht zu stellen.

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