02. März 2022

»Das ist nicht mein Krieg.«

Unsere Autorin Gusel Jachina veröffentlichte diesen Text am 1. März 2022 in der Berliner Zeitung. Helmut Ettinger hat den Text übersetzt.

Diesen Text schreibe ich für meine Freunde – Verleger, Übersetzer und Leser im Ausland. Das zu tun, fällt mir schwer. Dafür braucht es Klarheit des Denkens und Beherrschung der Gefühle, doch meine Emotionen stehen in hellen Flammen. Noch schwerer fällt mir zu begreifen, was in Russland und der Ukraine geschieht. Aber jetzt zu schweigen, ist mir ganz und gar unmöglich.  

Vierzehn Jahre meiner Kindheit und Jugend habe ich in der Sowjetunion erlebt. Die kommunistische Ideologie lag in den letzten Zügen. Wir Pioniere haben an sie geglaubt, aber nicht richtig, nicht im Ernst. Woran wir wirklich geglaubt haben – das war der Frieden. Der seit den ersten Tagen der Sowjetmacht laufende Propagandaapparat funktionierte nach wie vor, nur führte er weniger eine kommunistische, als vielmehr eine pazifistische Sprache. „Die UdSSR – ein Bollwerk des Friedens“, „Frieden der Welt!“ – Losungen dieser Art waren an die Wände von Kindergärten und Schulen geschrieben. Jede Klasse begann das Schuljahr mit einer Friedensstunde. Lieder und Gedichte über den Frieden fehlten bei keiner Pionierveranstaltung, und davon gab es viele. Die Friedenstaube prangte in jedem Klassenzimmer, an jeder Wandzeitung und auf jedem Schulheft. An diese Taube haben wir geglaubt – so aufrichtig, wie nur Kinder das können. Der Glaube an den Frieden, ein unverzichtbarer Bestandteil der Kindheit in der Sowjetunion, hat jeden von uns als Persönlichkeit geprägt. Er schien unerschütterlich zu sein, gültig für alle Zeiten. 

Und noch etwas habe ich begriffen: Krieg ist etwas so Schreckliches, dass, wer ihn erlebt hat, darüber schweigt. Mein Großvater war vier Jahre lang im Zweiten Weltkrieg. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Durch das Schweigen wollte er seine Kinder und Enkel schützen.

Jetzt rollen russische Panzer über fremden Boden. Das mag ich kaum glauben. Alles in mir wehrt sich dagegen, am liebsten möchte ich laut aufheulen. Jedes Wort fällt mir schwer, keines ist stark genug. Ich spüre nur grenzenlose Verbitterung, Wut, Angst und Hilflosigkeit. Die Nachricht des 24. Februar 2022 hat mich am Boden zerstört. Meine Welt ist nicht nur aus den Angeln gehoben, sie ist einfach zerstört. Ich kann nicht verstehen, warum die Friedenserziehung nicht gewirkt hat.

Ich schreibe in meinem eigenen Namen, doch allen Freunden und Bekannten geht es wie mir. In meinem engeren und weiteren Umfeld gibt es niemanden, der diesen Krieg unterstützt. Die sozialen Netzwerke quellen über von Zorn und Bitten, Appellen und Forderungen, die Kampfhandlungen einzustellen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, einfache Wahrheiten auszusprechen und unablässig zu wiederholen: „Nie wieder Krieg“. „Frieden der Welt“. „Das Menschenleben steht über allem“. Das tun wir, bis die Dunkelheit weicht. Wir beharren auf der Banalität des Guten, um zu verhindern, dass die Banalität des Bösen über uns hereinbricht.

Das ist nicht mein Krieg. Dagegen wehre ich mich mit aller Kraft.