Ö1 Buch des Monats Mai Georgi Gospodinov: »Zeitzuflucht«
Jurybegründung – Ex Libris Redaktion
»Zeitzuflucht« heißt der wunderbare neue Roman des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov, bei dem ein sonderbarer Klinikbetreiber namens Gaustín, ein Reisender durch Raum und Zeit, der nie zu fassen ist, und sein jüngerer Begleiter, der Schriftsteller und Ich-Erzähler, im Mittelpunkt stehen. Beide verbindet eine Obsession für die Vergangenheit. Die von Gaustín gegründete, zunächst noch kleine »Klinik für Vergangenheit«, in der man in jedem Raum einer anderen Zeit begegnet, reüssiert schnell und expandiert. Zu viele Menschen leiden unter Alzheimer, Demenz und anderen Formen schwindenden Gedächtnisses - und suchen »Zeitschutzräume«. In der Gegenwart fühlen sie sich fremd, »die Vergangenheit ist ihre Heimat«. Gaustín will daher, aus therapeutischen Gründen, Räume »synchron zu ihrer inneren Zeit« erschaffen, und der Schriftsteller soll ihm dabei helfen, diese Räume mit Geschichten zu füllen und die verschiedenen Jahrzehnte zu »restaurieren«. Sie verstehen sich als »Reiseführer für das Ende«.
»Zeitzuflucht« ist ein origineller, scharfsinniger Roman, intelligent und unterhaltsam zugleich, mit witzigen, düsteren und grotesken Momenten und pointiert formulierten Gedanken - über Alter, Gedächtnisverlust und Sterben, den Trost des Vergessens und die Gedankenlosigkeit der Gegenwartsflucht, über »Ersatzerinnerungen« und falsche Nostalgie. Georgi Gospodinov zeigt, dass der Grat zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Gedankenspielerei, Chaos und trivialer Realität ein schmaler ist. »Je weniger Gedächtnis, desto mehr Vergangenheit«, heißt es in seinem Roman. Für die Menschen in Gaustíns Sanatorium mag die Vergangenheit Schutz und Geborgenheit bieten. Für alle anderen ist sie keine Option, eher eine Obsession.