07. Okt. 2022

Totenwinter – Das Ruhrgebiet in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Sabine Hofmann schreibt in »Totenwinter« von einer Frau in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit, vom Hungerwinter 1947 im Ruhrgebiet – und schildert auch einen Kriminalfall. Hier spricht die Autorin über ihre Recherche zum Roman und ihre teils überraschenden Funde.

Ihr Roman »Totenwinter« führt ins Ruhrgebiet im Jahr 1947 – wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Bei einem Weihnachtsbesuch fing eine meiner älteren Verwandten an zu erzählen. Sie berichtete von hochprozentigem Alkohol, die der Fabrikant im Stollen eines Bergwerks vor den Bombenangriffen schützen sollte, von Wehrmachtsdeserteuren und Schwarzmarktgeschäften – und ich stellte fest, dass die Nachkriegszeit im Ruhrgebiet viel spannenden Romanstoff hergibt. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, umso mehr Erzählungen aus meiner Kindheit sind mir eingefallen. Die Erwachsenen, mit denen ich aufgewachsen bin, hatten Krieg und Nachkriegszeit als Kinder oder junge Erwachsene erlebt und erzählten von Bombennächten in den Hochbunkern, von Evakuierungen, von ihrer Zeit als Schlüsselkind, vom Spielen in den Trümmern. Für mich war es spannend und reizvoll, diese persönlichen Geschichten wieder aufleben zu lassen, sie in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen und daraus eine ganz eigene, fiktive Geschichte zu spinnen.

Totenwinter
Empfehlung
Taschenbuch
14,00 €

Was mich an dem Winter 46/47, dem so genannten Hungerwinter, fasziniert hat, ist, dass einerseits das Land gewissermaßen in Winterstarre lag. Nichts ging mehr. Im Ruhrgebiet lag die Kohle auf Halde und konnte über die zugefrorenen Wasserwege und marode Reichsbahn nicht abtransportiert werden. Lebensmittel konnten aus denselben Gründen nicht in die Städte gebracht werden. Die Bewohner:innen litten Hunger. Andererseits aber wurden Weichen für die Zukunft gestellt. Im Ruhrgebiet stand die Frage im Raum, wie es mit dem Kohlebergbau und der Stahlindustrie weitergehen würde, letztere galt ja als Rüstungsschmiede des Dritten Reichs. Alfried Krupp war inhaftiert und stand im Sommer 1947 bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen vor Gericht. In den Stahlwerken des Ruhrgebiets gab es Demontagen von Anlagen, Produktionsstopp, und ebenfalls offen war die Frage nach den Eigentumsverhältnissen.  Bergleute und Stahlarbeiter streikten, nicht nur für eine Versorgung mit Lebensmitteln, sondern auch für die Sozialisierung ihrer Betriebe.

Sabine_Hofmann_Totenwinter_3
Januar 1949: Straßenhändler auf der Bongardstraße, die in Trümmern liegt

Ihr Roman gibt sehr anschaulich das Leben der Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder – wie haben Sie für Ihr Buch recherchiert?

Ich habe Erinnertes und Erzähltes einfließen lassen, manchmal, wenn es möglich war, noch einmal nachgefragt. Und natürlich habe ich viel gelesen. Zum Hungerwinter gibt es eine Menge Literatur und Bildmaterial. Viel Material hat mir auch die zeitgenössische Presse geliefert – ich habe gern auf die Archive von Spiegel und Zeit zurückgegriffen, die ja als Lizenzzeitungen 1947 bzw. 1946 gegründet wurden. Eine Fundgrube waren für mich die ersten Tageszeitungen, die im Ruhrgebiet im selben Zeitraum erstmals erschienen sind. Sie berichten über lokale Ereignisse und liefern somit einen lebendigen Blick auf das Alltagsleben. Ich war vor Ort und hatte ziemlich viel Spaß daran, alte Industrieanlagen zu besichtigen. Viele sind heute längst nicht mehr in Betrieb, sondern nur noch Museen. Ich bin dort begeistert herumgestreunt, um beispielsweise zu verstehen, wie ein Hochofen funktioniert. Hilfreich und eine besondere Freude waren mir auch die Gespräche mit meinem Vater, der als junger Mann eine kaufmännische Lehre im Bochumer Verein gemacht hat und einiges über den Betrieb zu erzählen wusste.

Sabine_Hofmann_Totenwinter_1
Die Autorin auf Recherchereise

»Totenwinter« ist auch ein Kriminalroman – welche Literatur hat Sie als Autorin beeinflusst?

Ich habe vor Jahren begonnen, mit Begeisterung die Romane von Volker Kutscher gelesen. Mich hat fasziniert, wie er Krimihandlung und Geschichte verflicht. Ich finde es ausgesprochen reizvoll, Zeitgeschichte als Krimi zu erzählen. Denn dabei stellen sich Fragen wie: Was bringt in einer bestimmten historischen – politischen, sozialen – Situation einen Menschen dazu, jemand anderen zu töten?

In »Totenwinter« ist es ein Arbeiterführer, der erschossen in einem Eisenbahnwaggon liegt. Sein Tod ist ohne die Verhältnisse der Zeit nicht zu denken. Hat er versucht, mit Schwarzhandel seine Familie zu versorgen, oder ist er einfach nur am falschen Ort gelandet? Wollte ihn jemand aus dem Weg haben, weil er zu einflussreich wurde? Oder wusste er etwas, das er besser nicht wissen sollte? Hat ihn sein Konkurrent um den Sitz im neugegründeten Betriebsausschuss beiseitegeräumt?

Was hat Sie beim Schreiben Ihres Buches besonders überrascht – welche Dinge, die Sie erfahren haben, waren absolut neu für Sie?

Was mich bei der Recherche zu meinen Ruhrgebietsromanen immer wieder überrascht, ist der neue Blick auf Altvertrautes. In »Totenwinter« waren es die Stahlwerke. Sie gehörten in meiner Kindheit und Jugend zum Stadtbild – Schlote, Kühltürme und die kilometerlangen Fabrikanlagen, an denen ich jahrelang mit der Straßenbahn vorbeigefahren bin, ohne mich sonderlich dafür zu interessieren, was in den riesigen Hallen hinter den Backsteinmauern vor sich ging. Bei der Recherche habe ich gelernt, was dort gefertigt wurde, wie die einzelnen Produktionsschritte ineinandergreifen, warum man Roheisen weiterverarbeiten muss. Und ich habe einiges über die Geschichte der Stahlwerke erfahren. Ich wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass es Demontagen gab, ich wusste nicht, inwieweit der Bochumer Verein davon betroffen war. Ich wusste, dass in der deutschen Industrie Häftlinge aus Konzentrationslagern als Zwangsarbeiter:innen eingesetzt waren. Wo in Bochum ihre Baracken standen, wo sie gearbeitet haben, wer für ihren Einsatz nach dem Krieg verurteilt wurde, all das war mir neu.

Sabine_Hofmann_Totenwinter_2
1940-1945: Über 30.000 Kriegsgefangene, Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge müssen in den Bergwerken, der Stahlindustrie oder beim Räumen von Bomben Zwangsarbeit verrichten.

Weiterer Titel

Auch im Gespräch